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5300 Jahre Schrift
Universität Heidelberg: Sonderforschungsbereich 933 der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Materiale Textkulturen. Materialität und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesellschaften
& Heidelberg Center for Cultural Heritage – HCCH
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Sonderforschungsbereich 933 der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Materiale Textkulturen & Heidelberg Center for Cultural Heritage – HCCH
 

Hypertext

Eine Schrift für vernetzte, dynamische Schreibmaschinen (1965)

von Christian Vater (Philosophie)

 
Schematische Darstellung einer Schreibumgebung, die wie ein ›Evolutionary List File‹ (ELF) aufgebaut ist

— die Datenstruktur, die Ted Nelson für komplexe, veränderliche und unbestimmte Schreibprozesse vorschlägt. Der ELF ist Baustein des ersten veröffentlichten Vorschlags für ein ›Hypertext-System‹.

 
Die Abbildung wurde Nelsons Beitrag zur 20. Jahreskonferenz der Association for Computing Machinery (ACM) entnommen, der gescannt in der Digitalen Bibliothek der ACM unter dem ›Digital Object Identifier‹ (DOI) 10.1145/800197.806036 vorliegt. Auch mit Hilfe von fortgeschrittener Bildbearbeitung ließ sich die Abbildungsqualität nicht verbessern, was einerseits den Typoskript-Charakter erhält und betont, aber andererseits auch auf die Dringlichkeit der Entwicklung und Einbettung passender Digitalisierungsverfahren im akademischen Archivwesen hinweist. Datierung: 1965.
zum Autor

Christian Vater ist Philosoph und Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt Ö »Schrifttragende Artefakte in Neuen Medien« des Heidelberger SFB 933. Zu seinen Forschungsinteressen zählen die Philosophie der Künstlichen Intelligenz, die Kulturgeschichte der Neuen Medien und des Internets, die Wikipedia als kollaboratives Wissensrepositorium sowie der Unterschied zwischen Mensch und Maschine. Er arbeitet zur Zeit an einer Dissertationsschrift zu Alan M. Turing.

 

Artikel als PDF

Es ist schwierig, wissenschaftlich exakt zu fassen, was ein ›Text‹ sein soll. Das Wort kommt von textere und bedeutet ›flechten‹ oder ›weben‹. Ein herkömmlicher Text — ohne die Vorsilbe ›hyper‹ — besteht aus einer Reihe von Zeichen, die typischerweise in einer feststehenden, linearen Reihenfolge geschrieben und gelesen werden. Er hat einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss. Dass ein Text ›gewoben‹ wird, macht in der Gegenwart besonders das ›World Wide Web‹ deutlich. Nicht jede Eigenschaft des ›Hypertextes‹, mit dem dieses Netz geknüpft wird, ist jedoch neu: Wir verwenden schon lange Schreib- und Editionstechniken, die dem Leser das zielführende ›Springen‹ im Text erleichtert haben. Es ist keine neue Erfindung, einen Namensindex anzulegen, einem Buch ein ausführliches Inhaltsverzeichnis voranzustellen oder in einem Wörterbuch ›→Verweise‹ zu markieren. Auch diese drei traditionellen Schreibtechniken lösen die Gewohnheit des linearen Lesens auf und markieren ›Sprungpunkte‹. Um nun aufzuzeigen, was einen Hypertext ausmacht, lohnt sich ein Blick in die Geschichte des Begriffs und der mit ihm verbundenen Technologien und Konzepte.

Man kann gut mit einem besonderen schrifttragenden Artefakt beginnen, dass niemals gebaut worden ist, sondern von dem uns nur erzählt wurde: Vannevar Bushs MEMEX (Memory Extender) von 1945. Der Elektroingenieur und Forschungsorganisator Bush beschreibt in seinem Essay »As We May Think« einen interaktiven Lesetisch mit Zugriff auf alle Texte der Welt, der dem Leser und Schreiber, der an ihm arbeitet, eine Indizierungsfunktion, eine Möglichkeit zur Neuanordnung von Zitaten und eine Vorrichtung zum Hinterlassen von Lese-Spuren bietet, die sogar untereinander ausgetauscht werden können. Der MEMEX sollte vor allem eine maschinelle Gedächtnisstütze sein, die wissenschaftliche Textarbeit erleichtern und die assoziativen Fähigkeiten seiner Nutzer verstärken. Eine solche Maschine war für Bush aber kein Selbstzweck: Er sah als hochrangiger Wissenschaftsberater nach dem Ende des zweiten Weltkrieges die Wissenschaft in der Pflicht, sich in Friedenszeiten den Bedürfnissen der gesamten Menschheit (und nicht mehr der Vernichtung von Menschenleben) zuzuwenden. Der MEMEX sollte dabei helfen, die steigende Zahl immer spezieller werdender Forschungsliteratur zu verwalten, aufzufinden und weiterzuverwenden — ein bis heute drängendes Problem. Ganze Enzyklopädien neuen Typs sollten so entstehen, die neu verwoben und für ihre Nutzer »verstärkt« werden konnten.

Bush verwendet den Begriff ›Hypertext‹ noch nicht. Wir finden ihn erst im Jahr 1965 im Aufsatz »A File Structure for the Complex, the Changing and the Indeterminate«. In diesem informatischen Fachartikel schildert uns der Philosoph und Soziologie Theodor H. Nelson seine Unzufriedenheit mit Aufbau und Handhabung der gängigen Großrechenanlagen seiner Zeit. Er wollte mit ihnen Texte schreiben und keine Tabellen durchrechnen oder Forschungsdaten verwalten. Schon die Datenablage (das File-System) störte ihn in der Handhabung. Er wollte eine Technik, die es ihm erlaubte, seine persönliche Ablage zu ersetzen und aus seinen abgelegten Textfragmenten graduell und ohne Brüche einen Text ›entstehen‹ zu lassen — also aus niedergeschriebenen Ideen, Kommentaren, Zitaten, Bildern oder Vorgängerversionen, die er ›beliebig‹ auswählen wollte. Er wisse, so schrieb er, was er an unterschiedlichen Handlungen mit Zettelkästen, Notizbüchern, Karteireitern, Lochstanzen, Hängeschränken, Schere und Kleber, Zeichentischen, Namensschildrahmen, einem Kopierer oder einem brauchbaren Schreibpult anstellen könne — und diesen Umfang an Text-Handhabungsmöglichkeiten erwarte er nun auch von seiner Schreibmaschine. Hierfür sei aber das übliche Material, auf dem Texte zu seiner Zeit noch festgehalten wurden, ungeeignet: nämlich der Textträger Papier — übrigens einschließlich aller ›papierförmig‹ programmierten Datenspeicher. Außerdem könne sich ein Papier-System nicht an die Bedürfnisse des einzelnen Lesers anpassen — der eine Leser sei gelangweilt, ein anderer überfordert. Deshalb bedürfe es eines Hypertextes, der sich eben genau dadurch auszeichnen müsse, dass jeder Leser ihn je eigenständig an seine Bedürfnisse anpassen, ihn dann lesen und schließlich weiterbearbeiten könne. Die Komplexität, die so entstünde, könne noch nicht einmal annähernd auf Papier abgebildet oder umgesetzt werden. Ein ›Hypertext-System‹ dieser Art würde Zusammenfassungen, Inhaltskarten, Querverbindungen, Anmerkungen, Zusätze und Fußnoten enthalten, und zwar nicht nur von einem, sondern von möglichst vielen Schreibern und Lesern. Es sollte unendlich wachsen können und immer mehr vom geschriebenen Wissen unserer Welt aufnehmen. Der Zweck geht jedoch über das Archivieren, Ordnen und Sortieren hinaus und auch über Nelsons Wunsch nach einer ihm genehmen Technik der Textproduktion: Es solle vor allem der Erziehung und Ausbildung dienen und das Gespür von Schülern und Studierenden für eigene Entscheidungen, Freiheiten, Eigenmotivation und die eigene intellektuelle Auffassungsgabe fördern. Dieses System solle dynamisch sein und nicht statisch. Fixe Ordnungssysteme lehnte er als unpassend ab — versuchsweise sollten weder Code noch Kategorien als »wahr«, »ideal« oder »permanent« gelten. Wie unsere physische Welt seien auch unsere Abstraktionen und Kategorien, unsere Ideen, Wissenschaft, Gelehrsamkeit und Sprache in einem ständigen Prozess des Zusammenfallens und wieder Entfaltens begriffen. Das Hypertext-System sollte sich diesem ständigen Wandel und Wachstum anpassen können, um als Werkzeug der Imagination zu helfen, eine immer größere Menge an Materialien in einer gemeinsamen, aber eben wandelbaren Struktur zusammenzufassen.

Das erste praktisch nutzbare und massenwirksame Hypertext-System wurde jedoch erst vom Physiker und Informatiker Sir Tim Berners-Lee entwickelt, der am CERN 1989 das ›World Wide Web‹ entwarf und dessen Techniken und Programmierstandards an das 1994 von ihm am MIT gegründete World Wide Web-Consortium (W3C) überführte, die seither frei zugänglich weiterentwickelt werden. Hierzu gehörten die Beschreibungssprache ›HTML‹, das Transferprotokoll ›http‹ und die ›URL-Adressen‹. Das Kernelement ist aber bis heute die ›Webverknüpfung‹ (der ›weblink‹), und selbst riesige, ›lebendige‹ und zunehmend zuverlässige kollaborative Online-Enzyklopädien wie die Wikipedia haben die begrüßenswerten technologischen Möglichkeiten des Web noch nicht ausgeschöpft. Deshalb sollte die Freiheit dieses weltweiten Webs im Interesse aller Menschen unbedingt erhalten bleiben.

 

 
Literatur

Berners-Lee, Sir Tim (1989), Information Management: a Proposal (Förderantrag, CERN) (via w3.org, abgerufen am 22.3.2017).

Bush, Vannevar (1945), »As We May Think«, in: Atlantic Monthly 176, 101–108 (via theatlantic.com, abgerufen am 22.3.2017).

Nelson, Theodor H. (1965), »Complex Information Processing: a File Structure for the Complex, the Changing and the Indeterminate«, in: Proceedings of the 20th National Conference of the Association for Computing Machinery, New York, 84–100 (via acm.org, abgerufen am 22.3.2017).

Weitere Verweise

Video des Vortrags.

Die Geschichte der Wissensverarbeitung als Zeitstrahl (hier ab 1960, via WolframAlpha).

Vannevar Bushs "As We May Think" (via theatlantic.com).

Ted Nelsons "A File Structure for the Complex, the Changing and the Indeterminate" als Digitalisat (via acm.org oder pace.edu).

Sir Tim Berners-Lees "Information Management: A Proposal" (via w3.org).

Die "MEMEX-Animation" (Animation von Dynamic Diagrams als Webvideo).

Werner Herzog interviewt Ted Nelson für "Lo and Behold!" (Webvideo)

Webseite von Theodor "Ted" Holm Nelson.

Ted Nelsons "Computer Lib / Dream Machines" (Auszüge und Kommentar via newmediareader.com). You can and must understand computers now!

Der Verfasser über die Ideengeschichte des Hypertext im Erklärvideo für FastForwardScience (Wettbewerbesbeitrag zu Superfast - 48-Stunden-Challenge).

Wie lerne ich selbst, mit Hypertext umzugehen? SELFHTML wird vom Verfasser wärmstens empfohlen :)

Zum Mitschreiben: Das Lemma "Hypertext" in der deutschsprachigen Wikipedia.

Aus aktuellem Anlass: "This is a battle for the future of the internet" (Aufruf auch vom World Wide Web Consortium).

Abbildungshinweis

Titelbild: Courtesy of Theodor Holm Nelson.

 
  Wunderhorn Verlag Sonderforschungsbereich Materiale Textkulturen der Deutschen Forschungsgemeinschaft Universität Heidelberg  

Hypertext

Eine Schrift für vernetzte, dynamische Schreibmaschinen (1965)

von Christian Vater (Philosophie)

Schematische Darstellung einer Schreibumgebung, die wie ein ›Evolutionary List File‹ (ELF) aufgebaut ist

— die Datenstruktur, die Ted Nelson für komplexe, veränderliche und unbestimmte Schreibprozesse vorschlägt. Der ELF ist Baustein des ersten veröffentlichten Vorschlags für ein ›Hypertext-System‹. Die Abbildung wurde Nelsons Beitrag zur 20. Jahreskonferenz der Association for Computing Machinery (ACM) entnommen, der gescannt in der Digitalen Bibliothek der ACM unter dem ›Digital Object Identifier‹ (DOI) 10.1145/800197.806036 vorliegt. Auch mit Hilfe von fortgeschrittener Bildbearbeitung ließ sich die Abbildungsqualität nicht verbessern, was einerseits den Typoskript-Charakter erhält und betont, aber andererseits auch auf die Dringlichkeit der Entwicklung und Einbettung passender Digitalisierungsverfahren im akademischen Archivwesen hinweist. Datierung: 1965.

Titelbild: Courtesy of Theodor Holm Nelson.

Es ist schwierig, wissenschaftlich exakt zu fassen, was ein ›Text‹ sein soll. Das Wort kommt von textere und bedeutet ›flechten‹ oder ›weben‹. Ein herkömmlicher Text — ohne die Vorsilbe ›hyper‹ — besteht aus einer Reihe von Zeichen, die typischerweise in einer feststehenden, linearen Reihenfolge geschrieben und gelesen werden. Er hat einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss. Dass ein Text ›gewoben‹ wird, macht in der Gegenwart besonders das ›World Wide Web‹ deutlich. Nicht jede Eigenschaft des ›Hypertextes‹, mit dem dieses Netz geknüpft wird, ist jedoch neu: Wir verwenden schon lange Schreib- und Editionstechniken, die dem Leser das zielführende ›Springen‹ im Text erleichtert haben. Es ist keine neue Erfindung, einen Namensindex anzulegen, einem Buch ein ausführliches Inhaltsverzeichnis voranzustellen oder in einem Wörterbuch ›→Verweise‹ zu markieren. Auch diese drei traditionellen Schreibtechniken lösen die Gewohnheit des linearen Lesens auf und markieren ›Sprungpunkte‹. Um nun aufzuzeigen, was einen Hypertext ausmacht, lohnt sich ein Blick in die Geschichte des Begriffs und der mit ihm verbundenen Technologien und Konzepte.

Man kann gut mit einem besonderen schrifttragenden Artefakt beginnen, dass niemals gebaut worden ist, sondern von dem uns nur erzählt wurde: Vannevar Bushs MEMEX (Memory Extender) von 1945. Der Elektroingenieur und Forschungsorganisator Bush beschreibt in seinem Essay »As We May Think« einen interaktiven Lesetisch mit Zugriff auf alle Texte der Welt, der dem Leser und Schreiber, der an ihm arbeitet, eine Indizierungsfunktion, eine Möglichkeit zur Neuanordnung von Zitaten und eine Vorrichtung zum Hinterlassen von Lese-Spuren bietet, die sogar untereinander ausgetauscht werden können. Der MEMEX sollte vor allem eine maschinelle Gedächtnisstütze sein, die wissenschaftliche Textarbeit erleichtern und die assoziativen Fähigkeiten seiner Nutzer verstärken. Eine solche Maschine war für Bush aber kein Selbstzweck: Er sah als hochrangiger Wissenschaftsberater nach dem Ende des zweiten Weltkrieges die Wissenschaft in der Pflicht, sich in Friedenszeiten den Bedürfnissen der gesamten Menschheit (und nicht mehr der Vernichtung von Menschenleben) zuzuwenden. Der MEMEX sollte dabei helfen, die steigende Zahl immer spezieller werdender Forschungsliteratur zu verwalten, aufzufinden und weiterzuverwenden — ein bis heute drängendes Problem. Ganze Enzyklopädien neuen Typs sollten so entstehen, die neu verwoben und für ihre Nutzer »verstärkt« werden konnten.

Bush verwendet den Begriff ›Hypertext‹ noch nicht. Wir finden ihn erst im Jahr 1965 im Aufsatz »A File Structure for the Complex, the Changing and the Indeterminate«. In diesem informatischen Fachartikel schildert uns der Philosoph und Soziologie Theodor H. Nelson seine Unzufriedenheit mit Aufbau und Handhabung der gängigen Großrechenanlagen seiner Zeit. Er wollte mit ihnen Texte schreiben und keine Tabellen durchrechnen oder Forschungsdaten verwalten. Schon die Datenablage (das File-System) störte ihn in der Handhabung. Er wollte eine Technik, die es ihm erlaubte, seine persönliche Ablage zu ersetzen und aus seinen abgelegten Textfragmenten graduell und ohne Brüche einen Text ›entstehen‹ zu lassen — also aus niedergeschriebenen Ideen, Kommentaren, Zitaten, Bildern oder Vorgängerversionen, die er ›beliebig‹ auswählen wollte. Er wisse, so schrieb er, was er an unterschiedlichen Handlungen mit Zettelkästen, Notizbüchern, Karteireitern, Lochstanzen, Hängeschränken, Schere und Kleber, Zeichentischen, Namensschildrahmen, einem Kopierer oder einem brauchbaren Schreibpult anstellen könne — und diesen Umfang an Text-Handhabungsmöglichkeiten erwarte er nun auch von seiner Schreibmaschine. Hierfür sei aber das übliche Material, auf dem Texte zu seiner Zeit noch festgehalten wurden, ungeeignet: nämlich der Textträger Papier — übrigens einschließlich aller ›papierförmig‹ programmierten Datenspeicher. Außerdem könne sich ein Papier-System nicht an die Bedürfnisse des einzelnen Lesers anpassen — der eine Leser sei gelangweilt, ein anderer überfordert. Deshalb bedürfe es eines Hypertextes, der sich eben genau dadurch auszeichnen müsse, dass jeder Leser ihn je eigenständig an seine Bedürfnisse anpassen, ihn dann lesen und schließlich weiterbearbeiten könne. Die Komplexität, die so entstünde, könne noch nicht einmal annähernd auf Papier abgebildet oder umgesetzt werden. Ein ›Hypertext-System‹ dieser Art würde Zusammenfassungen, Inhaltskarten, Querverbindungen, Anmerkungen, Zusätze und Fußnoten enthalten, und zwar nicht nur von einem, sondern von möglichst vielen Schreibern und Lesern. Es sollte unendlich wachsen können und immer mehr vom geschriebenen Wissen unserer Welt aufnehmen. Der Zweck geht jedoch über das Archivieren, Ordnen und Sortieren hinaus und auch über Nelsons Wunsch nach einer ihm genehmen Technik der Textproduktion: Es solle vor allem der Erziehung und Ausbildung dienen und das Gespür von Schülern und Studierenden für eigene Entscheidungen, Freiheiten, Eigenmotivation und die eigene intellektuelle Auffassungsgabe fördern. Dieses System solle dynamisch sein und nicht statisch. Fixe Ordnungssysteme lehnte er als unpassend ab — versuchsweise sollten weder Code noch Kategorien als »wahr«, »ideal« oder »permanent« gelten. Wie unsere physische Welt seien auch unsere Abstraktionen und Kategorien, unsere Ideen, Wissenschaft, Gelehrsamkeit und Sprache in einem ständigen Prozess des Zusammenfallens und wieder Entfaltens begriffen. Das Hypertext-System sollte sich diesem ständigen Wandel und Wachstum anpassen können, um als Werkzeug der Imagination zu helfen, eine immer größere Menge an Materialien in einer gemeinsamen, aber eben wandelbaren Struktur zusammenzufassen.

Das erste praktisch nutzbare und massenwirksame Hypertext-System wurde jedoch erst vom Physiker und Informatiker Sir Tim Berners-Lee entwickelt, der am CERN 1989 das ›World Wide Web‹ entwarf und dessen Techniken und Programmierstandards an das 1994 von ihm am MIT gegründete World Wide Web-Consortium (W3C) überführte, die seither frei zugänglich weiterentwickelt werden. Hierzu gehörten die Beschreibungssprache ›HTML‹, das Transferprotokoll ›http‹ und die ›URL-Adressen‹. Das Kernelement ist aber bis heute die ›Webverknüpfung‹ (der ›weblink‹), und selbst riesige, ›lebendige‹ und zunehmend zuverlässige kollaborative Online-Enzyklopädien wie die Wikipedia haben die begrüßenswerten technologischen Möglichkeiten des Web noch nicht ausgeschöpft. Deshalb sollte die Freiheit dieses weltweiten Webs im Interesse aller Menschen unbedingt erhalten bleiben.

Artikel als PDF

zum Autor

Christian Vater ist Philosoph und Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt Ö »Schrifttragende Artefakte in Neuen Medien« des Heidelberger SFB 933. Zu seinen Forschungsinteressen zählen die Philosophie der Künstlichen Intelligenz, die Kulturgeschichte der Neuen Medien und des Internets, die Wikipedia als kollaboratives Wissensrepositorium sowie der Unterschied zwischen Mensch und Maschine. Er arbeitet zur Zeit an einer Dissertationsschrift zu Alan M. Turing.

Literatur

Berners-Lee, Sir Tim (1989), Information Management: a Proposal (Förderantrag, CERN) (via w3.org, abgerufen am 22.3.2017).

Bush, Vannevar (1945), »As We May Think«, in: Atlantic Monthly 176, 101–108 (via theatlantic.com, abgerufen am 22.3.2017).

Nelson, Theodor H. (1965), »Complex Information Processing: a File Structure for the Complex, the Changing and the Indeterminate«, in: Proceedings of the 20th National Conference of the Association for Computing Machinery, New York, 84–100 (via acm.org, abgerufen am 22.3.2017).

Weitere Verweise

Video des Vortrags.

Die Geschichte der Wissensverarbeitung als Zeitstrahl (hier ab 1960, via WolframAlpha).

Vannevar Bushs "As We May Think" (via theatlantic.com).

Ted Nelsons "A File Structure for the Complex, the Changing and the Indeterminate" als Digitalisat (via acm.org oder pace.edu).

Sir Tim Berners-Lees "Information Management: A Proposal" (via w3.org).

Die "MEMEX-Animation" (Animation von Dynamic Diagrams als Webvideo).

Werner Herzog interviewt Ted Nelson für "Lo and Behold!" (Webvideo)

Webseite von Theodor "Ted" Holm Nelson.

Ted Nelsons "Computer Lib / Dream Machines" (Auszüge und Kommentar via newmediareader.com). You can and must understand computers now!

Der Verfasser über die Ideengeschichte des Hypertext im Erklärvideo für FastForwardScience (Wettbewerbesbeitrag zu Superfast - 48-Stunden-Challenge).

Wie lerne ich selbst, mit Hypertext umzugehen? SELFHTML wird vom Verfasser wärmstens empfohlen :)

Zum Mitschreiben: Das Lemma "Hypertext" in der deutschsprachigen Wikipedia.

Aus aktuellem Anlass: "This is a battle for the future of the internet" (Aufruf auch vom World Wide Web Consortium).