MTK & HCCH | Onlinepublikation 5300 Jahre Schrift |
Universität Heidelberg: Sonderforschungsbereich 933 der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Materiale Textkulturen. Materialität und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesellschaften & Heidelberg Center for Cultural Heritage – HCCH |
Ein ›L‹ auf ReisenDie Geschichte einer Initiale und ihrer Drucker (1485)von Charlotte Kempf (Mittelalterliche Geschichte) |
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Petrus de Crescentiis, »La manière d'enter et planter en jardins«(Quartformat, Papier). Das ›L‹ in einer seiner ersten Ausgaben, Holzschnitt mit zwei mürrischen Gesichtern und einem Fisch. Gedruckt in Paris, Druckerei Jean Du Pré. Exemplar aus Paris, Bibliothèque nationale de France (RES-S-834). Datierung: um 1485. |
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zur AutorinCharlotte Kempf ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt A06 »Die papierene Umwälzung im spätmittelalterlichen Europa. Vergleichende Untersuchungen zum Wandel von Technik und Kultur im ›sozialen Raum‹« des SFB 933 und arbeitet an einem Promotionsvorhaben zum Thema »Deutsche Erstdrucker im französischsprachigen Raum bis 1500« im Rahmen des deutsch-französischen Promotionsprogramms zwischen der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und der École des Hautes Études en Sciences Sociales Paris.
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Kalligraphische, parallel verlaufende Bögen und Schäfte, sogenannte Cadellen, zwei etwas mürrisch blickende Gesichter im Profil und ein Fisch, der einem Marlin (Schwertfisch) ähnelt und dessen Schwert die beiden übereinander angeordneten Gesichter trennt — dies sind wesentliche Elemente einer bemerkenswerten Figureninitiale ›L‹ aus der Frühzeit der französischen Druckgeschichte. Das ›L‹, um das es hier geht, tauchte erstmalig um das Jahr 1485 auf und durchlebte in wenigen Jahrzehnten eine an Stationen reiche und wechselvolle Geschichte, die von Transfer, Imitation und Modifikation erzählt. Betrachtet man die Initiale ›L‹ der französischen Frühdruckzeit im Überblick, so stellt sich das überraschende Ergebnis ein, dass anthropomorphe und zoomorphe Motive in Gestalt von Gesichtern und dem einem Marlin ähnlichen Fisch sowie Cadellen diese Initiale häufig ausschmückten. Warum die Wahl auf diese Motive fiel und warum gerade das hier abgebildete ›L‹ in dieser spezifischen Form vielfach verwendet wurde, lässt sich kaum beantworten. Da das ›L‹ der erste Buchstabe der bestimmten französischen Artikel ist, erscheint es häufiger als andere Buchstaben an Satz- und Kapitelanfängen und wurde daher bei französischen Druckern oft als Initiale gestaltet. Entsprechend erschien auch dieses kuriose, fast schon grotesk anmutende ›L‹ — soweit man weiß — ausschließlich in volkssprachlichen, französischen Texten. Mit der Erfindung des Buchdrucks erhielt Schrift eine neue Eigenständigkeit. Erstmalig in der europäischen Geschichte materialisierte sich Schrift mittels der Drucktypen zu einem eigenständigen Artefakt, wodurch sie unabhängig vom Schreiben und vom Drucken bestand — Schrift lag in Form der Drucktypen in den Setzkästen der Drucker vor, zwar systematisch, aber ohne dass sie sich zu einem Text zusammenfügte. Für die Wiedergabe von Initialen machten sich die Drucker das traditionelle Verfahren des Holzschnittes zunutze. Allerdings wurden nicht, wie zuvor noch bei Blockbüchern, ganze Seiten als Holzschnitt ausgeführt, sondern nur einzelne Buchstaben. Wie bei der Handschrift, so erfüllte auch beim Druck die Initiale den vorrangigen Zweck, den Text optisch ansprechend zu eröffnen. Initialen sind somit ein anschauliches Beispiel dafür, wie Handschriftenkultur und Buchdruckerkunst um 1500 noch eng aufeinander bezogen waren. Das hier präsentierte ›L‹ diente ebenfalls als Schmuckelement, das dem Text zu einer herausgehobenen, dekorativen Einleitung verhalf, ohne dass es im inhaltlichen Zusammenhang mit dem Text stand. Den Ursprung seiner wechselhaften Geschichte nahm das ›L‹ wohl Mitte der 1480er Jahre in der Druckerei des Jean Du Pré in Paris. Du Pré verwendete die Initiale in den von ihm gedruckten Werken »La manière d'enter et planter en jardins«, »La vie de sainte Christine« und »Le Chapelet de virginité«. Wer der Formschneider war, ist unbekannt. Schon kurz darauf benutzte es der ebenfalls in Paris ansässige Drucker Pierre Le Rouge. Er modifizierte das ›L‹ geringfügig und setzte es Ende des Jahres 1487 in seiner Ausgabe des »Le Livre du faucon« ein. Anschließend wechselte es nicht allein die Presse, sondern auch den Ort: Es wanderte von Paris nach Besançon zum deutschen Drucker Peter Metlinger. Er führte den Buchdruck in Besançon ein, nutzte das ›L‹ in seiner Druckerei und nahm es anschließend auch bei seinem Umzug nach Dole mit. In den nachfolgenden Jahren fand es sich in Lyon bei Jean Du Pré (trotz des gleichen Namens nicht identisch mit dem Pariser Drucker), Matthias Huss und dem sogenannten Drucker des »Champion des Dames«, in Paris bei Antoine Vérard, Le Petit Laurens, Pierre Le Caron, Guillaume Nyverd und André Bocard / Jean de Marnef sowie in Troyes bei Guillaume Le Rouge. Das ›L‹ erschien in oftmals sehr erfolgreichen unterhaltenden, informativen sowie belehrenden Werken wie der französischen Übersetzung von Jacobus de Voragines Werk »Legenda aurea«, Olivier Maillards »La confession générale«, Jacques Millets »La destruction de Troyes«, »La vertu et propriété des eaux artificielles«, »La danse macabre« oder »Les Faits« von Alain Chartier. Die Hochzeit des ›L‹ lag in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum von Mitte der 1480er Jahre bis zum Ende des Jahrhunderts. Im Laufe seiner Geschichte veränderte es immer wieder seine Gestalt. Die Cadellen und die im Profil gezeichneten Gesichter waren davon ebenso betroffen wie seine Neigung. So war schon etwa Metlingers ›L‹ in Pseudo-Bernhards »Le régime de ménage« (ca. 1487/1488) stärker nach links geneigt als noch bei Du Pré und Le Rouge. Seine größte Veränderung erlebte es aber ab 1496 mit dem Wegfall des Fisches. In dieser Variante findet man es bei Le Petit Laurens, Antoine Vérard, André Bocard bzw. Jean de Marnef. Um 1503 erschien bei Richard Auzoult in Rouen wohl der letzte Druck dieser Initiale — noch deutlich erkennbar, aber auch deutlich gewandelt. Könnte man sagen, die Karriere des noch von der Handschrift geprägten ›L‹ kam zu einem Zeitpunkt an ihr Ende, an dem auch die Übergangsphase zwischen non-typographischer und typographischer Gesellschaft endete und die Geschichte entschieden hatte, wohin die Reise ging? Du Prés Schrift-Initiale ›L‹ jedenfalls entfaltete gewissermaßen eine Art Eigenleben, das Du Pré weder vollständig beabsichtigen noch kontrollieren konnte. So erzählt nicht nur ein gedruckter Text eine Geschichte, sondern bereits ein einzelner, zum Artefakt materialisierter Buchstabe.
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Literatur |
Hillard, Denise (2004), »Histoires de L«, in: Frédéric Barbier (Hg.): Le berceau du livre : autour des incunables. Études et essais offerts au Professeur Pierre Aquilon par ses élèves, ses collègues et ses amis (Revue française d’histoire du livre, nouvelle série 118–121), Genf, 79–104. Lehmann-Haupt, Hellmut (1948), Initials from French Incunabula with 1011 Reproductions, New York. |
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Weitere Verweise |
Die Abbildung der "L"-Initiale von Pierre Le Rouge in einer historischen Abhandlung über Buchillustration (via archive.org). Der "Atlas of Early Printing" mit interaktiver Zeitleiste und Zeitrafferanimation. Interaktiver Zeitstrahl zur Zeit und zum Leben Johannes Gutenbergs des Gutenberg-Museums Mainz (via. gutenberg.de). |
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Abbildungshinweis |
Titelbild: Bibliothèque nationale de France RES-S-834. |
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(Quartformat, Papier). Das ›L‹ in einer seiner ersten Ausgaben, Holzschnitt mit zwei mürrischen Gesichtern und einem Fisch. Gedruckt in Paris, Druckerei Jean Du Pré. Exemplar aus Paris, Bibliothèque nationale de France (RES-S-834). Datierung: um 1485.
Titelbild: Bibliothèque nationale de France RES-S-834.
Kalligraphische, parallel verlaufende Bögen und Schäfte, sogenannte Cadellen, zwei etwas mürrisch blickende Gesichter im Profil und ein Fisch, der einem Marlin (Schwertfisch) ähnelt und dessen Schwert die beiden übereinander angeordneten Gesichter trennt — dies sind wesentliche Elemente einer bemerkenswerten Figureninitiale ›L‹ aus der Frühzeit der französischen Druckgeschichte. Das ›L‹, um das es hier geht, tauchte erstmalig um das Jahr 1485 auf und durchlebte in wenigen Jahrzehnten eine an Stationen reiche und wechselvolle Geschichte, die von Transfer, Imitation und Modifikation erzählt.
Betrachtet man die Initiale ›L‹ der französischen Frühdruckzeit im Überblick, so stellt sich das überraschende Ergebnis ein, dass anthropomorphe und zoomorphe Motive in Gestalt von Gesichtern und dem einem Marlin ähnlichen Fisch sowie Cadellen diese Initiale häufig ausschmückten. Warum die Wahl auf diese Motive fiel und warum gerade das hier abgebildete ›L‹ in dieser spezifischen Form vielfach verwendet wurde, lässt sich kaum beantworten. Da das ›L‹ der erste Buchstabe der bestimmten französischen Artikel ist, erscheint es häufiger als andere Buchstaben an Satz- und Kapitelanfängen und wurde daher bei französischen Druckern oft als Initiale gestaltet. Entsprechend erschien auch dieses kuriose, fast schon grotesk anmutende ›L‹ — soweit man weiß — ausschließlich in volkssprachlichen, französischen Texten.
Mit der Erfindung des Buchdrucks erhielt Schrift eine neue Eigenständigkeit. Erstmalig in der europäischen Geschichte materialisierte sich Schrift mittels der Drucktypen zu einem eigenständigen Artefakt, wodurch sie unabhängig vom Schreiben und vom Drucken bestand — Schrift lag in Form der Drucktypen in den Setzkästen der Drucker vor, zwar systematisch, aber ohne dass sie sich zu einem Text zusammenfügte. Für die Wiedergabe von Initialen machten sich die Drucker das traditionelle Verfahren des Holzschnittes zunutze.
Allerdings wurden nicht, wie zuvor noch bei Blockbüchern, ganze Seiten als Holzschnitt ausgeführt, sondern nur einzelne Buchstaben. Wie bei der Handschrift, so erfüllte auch beim Druck die Initiale den vorrangigen Zweck, den Text optisch ansprechend zu eröffnen. Initialen sind somit ein anschauliches Beispiel dafür, wie Handschriftenkultur und Buchdruckerkunst um 1500 noch eng aufeinander bezogen waren. Das hier präsentierte ›L‹ diente ebenfalls als Schmuckelement, das dem Text zu einer herausgehobenen, dekorativen Einleitung verhalf, ohne dass es im inhaltlichen Zusammenhang mit dem Text stand.
Den Ursprung seiner wechselhaften Geschichte nahm das ›L‹ wohl Mitte der 1480er Jahre in der Druckerei des Jean Du Pré in Paris. Du Pré verwendete die Initiale in den von ihm gedruckten Werken »La manière d'enter et planter en jardins«, »La vie de sainte Christine« und »Le Chapelet de virginité«. Wer der Formschneider war, ist unbekannt. Schon kurz darauf benutzte es der ebenfalls in Paris ansässige Drucker Pierre Le Rouge. Er modifizierte das ›L‹ geringfügig und setzte es Ende des Jahres 1487 in seiner Ausgabe des »Le Livre du faucon« ein. Anschließend wechselte es nicht allein die Presse, sondern auch den Ort: Es wanderte von Paris nach Besançon zum deutschen Drucker Peter Metlinger. Er führte den Buchdruck in Besançon ein, nutzte das ›L‹ in seiner Druckerei und nahm es anschließend auch bei seinem Umzug nach Dole mit. In den nachfolgenden Jahren fand es sich in Lyon bei Jean Du Pré (trotz des gleichen Namens nicht identisch mit dem Pariser Drucker), Matthias Huss und dem sogenannten Drucker des »Champion des Dames«, in Paris bei Antoine Vérard, Le Petit Laurens, Pierre Le Caron, Guillaume Nyverd und André Bocard / Jean de Marnef sowie in Troyes bei Guillaume Le Rouge. Das ›L‹ erschien in oftmals sehr erfolgreichen unterhaltenden, informativen sowie belehrenden Werken wie der französischen Übersetzung von Jacobus de Voragines Werk »Legenda aurea«, Olivier Maillards »La confession générale«, Jacques Millets »La destruction de Troyes«, »La vertu et propriété des eaux artificielles«, »La danse macabre« oder »Les Faits« von Alain Chartier.
Die Hochzeit des ›L‹ lag in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum von Mitte der 1480er Jahre bis zum Ende des Jahrhunderts. Im Laufe seiner Geschichte veränderte es immer wieder seine Gestalt. Die Cadellen und die im Profil gezeichneten Gesichter waren davon ebenso betroffen wie seine Neigung. So war schon etwa Metlingers ›L‹ in Pseudo-Bernhards »Le régime de ménage« (ca. 1487/1488) stärker nach links geneigt als noch bei Du Pré und Le Rouge. Seine größte Veränderung erlebte es aber ab 1496 mit dem Wegfall des Fisches. In dieser Variante findet man es bei Le Petit Laurens, Antoine Vérard, André Bocard bzw. Jean de Marnef. Um 1503 erschien bei Richard Auzoult in Rouen wohl der letzte Druck dieser Initiale — noch deutlich erkennbar, aber auch deutlich gewandelt.
Könnte man sagen, die Karriere des noch von der Handschrift geprägten ›L‹ kam zu einem Zeitpunkt an ihr Ende, an dem auch die Übergangsphase zwischen non-typographischer und typographischer Gesellschaft endete und die Geschichte entschieden hatte, wohin die Reise ging?
Du Prés Schrift-Initiale ›L‹ jedenfalls entfaltete gewissermaßen eine Art Eigenleben, das Du Pré weder vollständig beabsichtigen noch kontrollieren konnte. So erzählt nicht nur ein gedruckter Text eine Geschichte, sondern bereits ein einzelner, zum Artefakt materialisierter Buchstabe.
Charlotte Kempf ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt A06 »Die papierene Umwälzung im spätmittelalterlichen Europa. Vergleichende Untersuchungen zum Wandel von Technik und Kultur im ›sozialen Raum‹« des SFB 933 und arbeitet an einem Promotionsvorhaben zum Thema »Deutsche Erstdrucker im französischsprachigen Raum bis 1500« im Rahmen des deutsch-französischen Promotionsprogramms zwischen der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und der École des Hautes Études en Sciences Sociales Paris.
Hillard, Denise (2004), »Histoires de L«, in: Frédéric Barbier (Hg.): Le berceau du livre : autour des incunables. Études et essais offerts au Professeur Pierre Aquilon par ses élèves, ses collègues et ses amis (Revue française d’histoire du livre, nouvelle série 118–121), Genf, 79–104.
Lehmann-Haupt, Hellmut (1948), Initials from French Incunabula with 1011 Reproductions, New York.
Die Abbildung der "L"-Initiale von Pierre Le Rouge in einer historischen Abhandlung über Buchillustration (via archive.org).
Der "Atlas of Early Printing" mit interaktiver Zeitleiste und Zeitrafferanimation.
Interaktiver Zeitstrahl zur Zeit und zum Leben Johannes Gutenbergs des Gutenberg-Museums Mainz (via. gutenberg.de).