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5300 Jahre Schrift
Universität Heidelberg: Sonderforschungsbereich 933 der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Materiale Textkulturen. Materialität und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesellschaften
& Heidelberg Center for Cultural Heritage – HCCH
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Sonderforschungsbereich 933 der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Materiale Textkulturen & Heidelberg Center for Cultural Heritage – HCCH
 

Ein Altar aus Palmyra

Eine aramäische Inschrift zwischen Euphrat und Mittelmeer (213 n. Chr.)

von Wilhelm Nebe  (Semitistik)

 
Altar aus Kalkstein (Höhe: 50 cm, Breite: 27 cm) in Form einer kleinen viereckigen Säule mit Basis und Kapitell

Der Altar ist mit einer Inschrift in palmyrenischer Sprache und Schrift versehen, welche eine Weihung an einen namenlosen Gott enthält. Gefunden in Palmyra (Syrien). Heute im Museum von Palmyra (Inv. A 1422). Datierung: März/April 213 n. Chr.

 
zum Autor

Wilhelm Nebe lehrt seit 1993 am Institut für Semitistik der Universität Heidelberg sowie seit 1999 an der Heidelberger Hochschule für Jüdische Studien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die hebräische und aramäische Epigraphik und Sprachwissenschaft sowie die Handschriften vom Toten Meer und aus der Kairoer Geniza.

 

Artikel als PDF

Groß ist in unseren Tagen die Entrüstung über die Zerstörung Palmyras in Syrien durch die Terror-Milizen des ›Islamischen Staates‹. Seit 1980 gehört die Stadt Palmyra mit ihren Ruinen zum Weltkulturerbe der UNESCO. Palmyras Bedeutung liegt in der Lage des Ortes begründet: Eine Oase inmitten von Wüstensteppe an der Handelsroute zwischen Mittelmeer und Euphrat, nordöstlich von Damaskus, östlich von Homs (dem antiken Emesa) und südwestlich des Euphrats. Ihre Mittelstellung zwischen Orient und Okzident hat sie zu einer wichtigen Handelsstadt und zu einer im 3. Jahrhundert n. Chr. zunehmend eigenständigen politischen Macht zwischen dem römischen Reich und den Staaten des Ostens gemacht, obwohl die Stadt formal weiterhin zum Imperium Romanum gehörte.

Zur Frühgeschichte und zum Namen der Stadt ist Folgendes bekannt: Unter Tiglatpileser I von Assyrien (1114–1076 v. Chr.) sollen aramäische Stämme bis zu einem Ort namens Tadma/i/ur im Lande Amurru verfolgt worden sein. Im biblischen »1. Buch der Könige« gehört Tadmor dann zu den von Salomo befestigten Städten (Kapitel 9, Vers 18). In der masoretisch-hebräischen Schreibtradition wurde der Ort als ›Palme‹ (tamar), in der Lesetradition jedoch als ›Tadmor‹ aufgefasst. In der lateinischen Vulgata wird hingegen die Bezeichnung ›Palmyra‹ — also ›Palmen-Stadt‹ — verwendet (lat. palma, aramäisch tamarā = ›Dattelpalme‹), was in der römischen Epoche der gängige Name der Wüstenoase war. In den vor Ort angefertigten palmyrenischen Inschriften ent­sprechen sich aramäisch tdm(w) r und griechisch Πάλμυρα. Die heutigen Araber denken bei der Nennung von ›Tadmur‹ an den alten Namen der Siedlung oder an den ›Ruinen‹-Ort (arabisch tadmīr). Die ursprüngliche Bedeutung des Namens hängt an den semitischen Wurzeln dmr ›wunderbar sein‹ oder ḏmr ›beschützen‹.

Eine ähnliche kulturelle Interaktion zwischen Orient und Okzident, wie sie in der Geschichte des Ortsnamens erkennbar wird, zeigt sich auch im Religiösen — kamen doch in Palmyra mesopotamische, persische, aramäische und kanaanäische Einflüsse mit hellenistisch-römischem Kulturgut unter Einbeziehung der alteingesessenen arabischen Stammesgottheiten zusammen. Eine solche Hybridisierung lassen ferner die ›theophoren‹ Bestandteile der in Palmyra gebräuchlichen Personennamen erkennen (also der Namensbestandteile, die Götternamen enthalten), deren sprachliche Zugehörigkeit — ob aramäisch oder arabisch — oft nicht mit letzter Sicherheit auszumachen ist. Werfen wir nun einen Blick auf die sprachliche Situation: Die im 2. Jahrtausend v. Chr. ausgeprägte Konsonantenschrift entwickelt sich im nordwestsemitischen Bereich des 1. Jahrtausends v. Chr. weiter — vom Phönizischen zum Althebräischen und zum Aramäischen. Von hier zweigen Entwicklungsarme gen Westen sowie gen Osten ab, wo wir das Syro-Aramäische und eben das Palmyrenische antreffen. Neben dem Griechischen und Lateinischen dominierte in Palmyra die aramäische Sprache. Sie war in Orthographie und Sprache stark abhängig vom Standard-Aramäischen der Verwaltung des persischen Großreiches im 5./4. Jahrhundert v. Chr., lässt sich aber eher zum Ost- als zum Westaramäischen rechnen und zeigt deutlich arabischen Spracheinfluss. Palmyrenisch ist vor allem durch inschriftliche Zeugnisse bekannt. Die Schrifttypologie der palmyrenischen Inschriften zeigt deutliche Bezüge zum westaramäischen Arm der Schrift. Es gibt fast 3000 palmyrenisch-aramäische Inschriften unterschiedlicher Gattungen, wie etwa Grab-, Weihe- oder Gedächtnisinschriften sowie in Stein gemeißelte Rechtsurkunden. Der hier vorgestellte Altar aus Palmyra ist mit einer Inschrift in Monumental- bzw. Schönschrift versehen. Die Inschrift umfasst sieben Zeilen und lautet wie folgt:

(1) bryk šmh lʿlmʾ (2) ṭbʾ wrḥ mnʾ ʿbd (3) wmwdʾ šmʿwn br (4) [..]šy ʿl ḥywhy wḥyʾ (5) [ʾ]byhy wʾmh wʾḥw[y/h] (6) byrḥ nysn šnt 5 100 + (7) 20 + 4

(1) (Dem,) dessen Name in Ewigkeit gesegnet ist, (2) (dem) Guten und Barmherzigen, hat (diesen Altar) gemacht, (3) womit er lobend dankt, Šemʿōn, der Sohn des (4) [-]-šay/-šī, für sein Leben und (für) das Leben (5) seines Vaters und seiner Mutter und seiner Brüder (6) im Monat Nisan des Jahres 500 (7) (+) 24 (= 524).

Die Zeilen sechs und sieben enthalten kein Tages-, wohl aber ein Monats- und Jahresdatum mit einem babylonischen Monatsnamen (Nisan — der erste Monat; entspricht März/April) und numerischen Zahlzeichen. Das Jahr 524 ist nach der seleukidischen Ära berechnet; somit ergibt sich als Datumsangabe für die Errichtung des Altares das Frühjahr 213 n. Chr., als Kaiser Caracalla das römische Reich regierte. Geweiht war der Altar laut der Inschrift einem namenlosen Gott, der Bel oder Baʿlschamen sein könnte. In dem Baʿlschamen-Tempel von Palmyra ist aber lediglich ein einziger Altar dieses Typs gefunden worden; alle weiteren stammen von der Efca-Quelle, deren Schutzgott Yarchibol war. Den Prädikaten des Gottes (›gut und barmherzig‹) entsprechen in vergleichbaren Inschriften Bezeichnungen wie ›mitleidsvoll‹, ›mitfühlend‹, ›groß/größter‹ oder ›gut und dankbar‹. Im Griechischen finden wir Ansprachen wie die an den ›höchsten Gott und dem, der erhörend ist‹. In zwei weiteren palmyrenisch-aramäischen Texten heißt es: »Die ihn riefen in der Not, und er antwortete ihnen in der Weite«. Diese Formulierung kommt dem biblischen Psalm 118, Vers 5 sehr nahe: »Aus der Bedrängnis rief ich Yah an, und es antwortete mir in der Weite Yah«. Die fast identische Formulierung in solchen Zeugnissen aus unterschiedlichen Kulturkreisen beruhte augenscheinlich auf einer ähnlich empfundenen Religiosität. Der namenlose Gott entsprang jedoch keinem Monotheismus jüdischen Einflusses, sondern einer Art Spiritualisierung, welche von einem durch einen bestimmten Namen bezeichneten Gott weg- und zu einem namenlosen göttlichen Einzelwesen hinführte, das aber weiterhin innerhalb des bestehenden Pantheons existierte. Dem Prädikat (›gemacht‹) untergeordnet ist ein Partizip (›dem Gott lobend dankend‹), womit sich der Stifter für die erfahrene Hilfe erkenntlich zeigte. Der Weihende ist eine männliche Einzelperson, die wohl noch unverheiratet und ohne Kinder war. Er trägt den Namen Šemʿōn und war wohl kein Jude, sondern eher ein Araber. Der nicht vollständig erhaltene Vatersname ist rekonstruierbar als ʾAḇīšī/ay, ʾAwsī/ay oder Šamšī/ay. Abgeschlossen wird die Weihung durch die Bitte des Stifters um ein langes Leben für sich, seine Eltern und die Brüder. An diesem Beispiel zeigt sich, wie viel an Informationen über das religiöse Leben einer antiken Stadt selbst ein so knapp gehaltenes Schriftzeugnis enthalten kann.

 

 
Literatur

Hillers, Delbert R. / Cussini, Eleonora (Hgg.) (1996), Palmyrene Aramaic Texts (Publications of the Comprehensive Aramaic Lexicon Project), Baltimore / London, 237 Nr. 1658 (= PAT).

Ruprechtsberger, Erwin M. (Hg.) (1987), Palmyra. Geschichte, Kunst und Kultur der syrischen Oasenstadt (Katalog zur Ausstellung im Stadtmuseum Linz, 10. April–27. Mai 1987; Linzer archäologische Forschungen 16), Linz, 311.

Weitere Verweise

Datenbank mit zahlreichen Bildern und Informationen zu aramäischen Inschriften in Palmyra auf der Website des „Wisconsin Palmyrene Aramaic Inscription Projects

Das Comprehensive Aramaic Lexicon Project versammelt eine Vielzahl aramäischer Texte in allen Dialekten aus der Zeit vom 9. Jhd. v. Chr bis zum 13. Jhd. n. Chr.

Abbildungshinweis

Titelbild: Ruprechtsberger, E. M. (Hg.) (1987), Palmyra. Geschichte, Kunst und Kultur der syrischen Oasenstadt. Katalog zur Ausstellung im Stadtmuseum Linz, 10. April–27. Mai 1987 (Linzer archäologische Forschungen 16), Linz, 311.

 
  Wunderhorn Verlag Sonderforschungsbereich Materiale Textkulturen der Deutschen Forschungsgemeinschaft Universität Heidelberg  

Ein Altar aus Palmyra

Eine aramäische Inschrift zwischen Euphrat und Mittelmeer (213 n. Chr.)

von Wilhelm Nebe  (Semitistik)

Altar aus Kalkstein (Höhe: 50 cm, Breite: 27 cm) in Form einer kleinen viereckigen Säule mit Basis und Kapitell

Der Altar ist mit einer Inschrift in palmyrenischer Sprache und Schrift versehen, welche eine Weihung an einen namenlosen Gott enthält. Gefunden in Palmyra (Syrien). Heute im Museum von Palmyra (Inv. A 1422). Datierung: März/April 213 n. Chr.

Titelbild: Ruprechtsberger, E. M. (Hg.) (1987), Palmyra. Geschichte, Kunst und Kultur der syrischen Oasenstadt. Katalog zur Ausstellung im Stadtmuseum Linz, 10. April–27. Mai 1987 (Linzer archäologische Forschungen 16), Linz, 311.

Groß ist in unseren Tagen die Entrüstung über die Zerstörung Palmyras in Syrien durch die Terror-Milizen des ›Islamischen Staates‹. Seit 1980 gehört die Stadt Palmyra mit ihren Ruinen zum Weltkulturerbe der UNESCO. Palmyras Bedeutung liegt in der Lage des Ortes begründet: Eine Oase inmitten von Wüstensteppe an der Handelsroute zwischen Mittelmeer und Euphrat, nordöstlich von Damaskus, östlich von Homs (dem antiken Emesa) und südwestlich des Euphrats. Ihre Mittelstellung zwischen Orient und Okzident hat sie zu einer wichtigen Handelsstadt und zu einer im 3. Jahrhundert n. Chr. zunehmend eigenständigen politischen Macht zwischen dem römischen Reich und den Staaten des Ostens gemacht, obwohl die Stadt formal weiterhin zum Imperium Romanum gehörte.

Zur Frühgeschichte und zum Namen der Stadt ist Folgendes bekannt: Unter Tiglatpileser I von Assyrien (1114–1076 v. Chr.) sollen aramäische Stämme bis zu einem Ort namens Tadma/i/ur im Lande Amurru verfolgt worden sein. Im biblischen »1. Buch der Könige« gehört Tadmor dann zu den von Salomo befestigten Städten (Kapitel 9, Vers 18). In der masoretisch-hebräischen Schreibtradition wurde der Ort als ›Palme‹ (tamar), in der Lesetradition jedoch als ›Tadmor‹ aufgefasst. In der lateinischen Vulgata wird hingegen die Bezeichnung ›Palmyra‹ — also ›Palmen-Stadt‹ — verwendet (lat. palma, aramäisch tamarā = ›Dattelpalme‹), was in der römischen Epoche der gängige Name der Wüstenoase war. In den vor Ort angefertigten palmyrenischen Inschriften ent­sprechen sich aramäisch tdm(w) r und griechisch Πάλμυρα. Die heutigen Araber denken bei der Nennung von ›Tadmur‹ an den alten Namen der Siedlung oder an den ›Ruinen‹-Ort (arabisch tadmīr). Die ursprüngliche Bedeutung des Namens hängt an den semitischen Wurzeln dmr ›wunderbar sein‹ oder ḏmr ›beschützen‹.

Eine ähnliche kulturelle Interaktion zwischen Orient und Okzident, wie sie in der Geschichte des Ortsnamens erkennbar wird, zeigt sich auch im Religiösen — kamen doch in Palmyra mesopotamische, persische, aramäische und kanaanäische Einflüsse mit hellenistisch-römischem Kulturgut unter Einbeziehung der alteingesessenen arabischen Stammesgottheiten zusammen. Eine solche Hybridisierung lassen ferner die ›theophoren‹ Bestandteile der in Palmyra gebräuchlichen Personennamen erkennen (also der Namensbestandteile, die Götternamen enthalten), deren sprachliche Zugehörigkeit — ob aramäisch oder arabisch — oft nicht mit letzter Sicherheit auszumachen ist. Werfen wir nun einen Blick auf die sprachliche Situation: Die im 2. Jahrtausend v. Chr. ausgeprägte Konsonantenschrift entwickelt sich im nordwestsemitischen Bereich des 1. Jahrtausends v. Chr. weiter — vom Phönizischen zum Althebräischen und zum Aramäischen. Von hier zweigen Entwicklungsarme gen Westen sowie gen Osten ab, wo wir das Syro-Aramäische und eben das Palmyrenische antreffen. Neben dem Griechischen und Lateinischen dominierte in Palmyra die aramäische Sprache. Sie war in Orthographie und Sprache stark abhängig vom Standard-Aramäischen der Verwaltung des persischen Großreiches im 5./4. Jahrhundert v. Chr., lässt sich aber eher zum Ost- als zum Westaramäischen rechnen und zeigt deutlich arabischen Spracheinfluss. Palmyrenisch ist vor allem durch inschriftliche Zeugnisse bekannt. Die Schrifttypologie der palmyrenischen Inschriften zeigt deutliche Bezüge zum westaramäischen Arm der Schrift. Es gibt fast 3000 palmyrenisch-aramäische Inschriften unterschiedlicher Gattungen, wie etwa Grab-, Weihe- oder Gedächtnisinschriften sowie in Stein gemeißelte Rechtsurkunden. Der hier vorgestellte Altar aus Palmyra ist mit einer Inschrift in Monumental- bzw. Schönschrift versehen. Die Inschrift umfasst sieben Zeilen und lautet wie folgt:

(1) bryk šmh lʿlmʾ (2) ṭbʾ wrḥ mnʾ ʿbd (3) wmwdʾ šmʿwn br (4) [..]šy ʿl ḥywhy wḥyʾ (5) [ʾ]byhy wʾmh wʾḥw[y/h] (6) byrḥ nysn šnt 5 100 + (7) 20 + 4

(1) (Dem,) dessen Name in Ewigkeit gesegnet ist, (2) (dem) Guten und Barmherzigen, hat (diesen Altar) gemacht, (3) womit er lobend dankt, Šemʿōn, der Sohn des (4) [-]-šay/-šī, für sein Leben und (für) das Leben (5) seines Vaters und seiner Mutter und seiner Brüder (6) im Monat Nisan des Jahres 500 (7) (+) 24 (= 524).

Die Zeilen sechs und sieben enthalten kein Tages-, wohl aber ein Monats- und Jahresdatum mit einem babylonischen Monatsnamen (Nisan — der erste Monat; entspricht März/April) und numerischen Zahlzeichen. Das Jahr 524 ist nach der seleukidischen Ära berechnet; somit ergibt sich als Datumsangabe für die Errichtung des Altares das Frühjahr 213 n. Chr., als Kaiser Caracalla das römische Reich regierte. Geweiht war der Altar laut der Inschrift einem namenlosen Gott, der Bel oder Baʿlschamen sein könnte. In dem Baʿlschamen-Tempel von Palmyra ist aber lediglich ein einziger Altar dieses Typs gefunden worden; alle weiteren stammen von der Efca-Quelle, deren Schutzgott Yarchibol war. Den Prädikaten des Gottes (›gut und barmherzig‹) entsprechen in vergleichbaren Inschriften Bezeichnungen wie ›mitleidsvoll‹, ›mitfühlend‹, ›groß/größter‹ oder ›gut und dankbar‹. Im Griechischen finden wir Ansprachen wie die an den ›höchsten Gott und dem, der erhörend ist‹. In zwei weiteren palmyrenisch-aramäischen Texten heißt es: »Die ihn riefen in der Not, und er antwortete ihnen in der Weite«. Diese Formulierung kommt dem biblischen Psalm 118, Vers 5 sehr nahe: »Aus der Bedrängnis rief ich Yah an, und es antwortete mir in der Weite Yah«. Die fast identische Formulierung in solchen Zeugnissen aus unterschiedlichen Kulturkreisen beruhte augenscheinlich auf einer ähnlich empfundenen Religiosität. Der namenlose Gott entsprang jedoch keinem Monotheismus jüdischen Einflusses, sondern einer Art Spiritualisierung, welche von einem durch einen bestimmten Namen bezeichneten Gott weg- und zu einem namenlosen göttlichen Einzelwesen hinführte, das aber weiterhin innerhalb des bestehenden Pantheons existierte. Dem Prädikat (›gemacht‹) untergeordnet ist ein Partizip (›dem Gott lobend dankend‹), womit sich der Stifter für die erfahrene Hilfe erkenntlich zeigte. Der Weihende ist eine männliche Einzelperson, die wohl noch unverheiratet und ohne Kinder war. Er trägt den Namen Šemʿōn und war wohl kein Jude, sondern eher ein Araber. Der nicht vollständig erhaltene Vatersname ist rekonstruierbar als ʾAḇīšī/ay, ʾAwsī/ay oder Šamšī/ay. Abgeschlossen wird die Weihung durch die Bitte des Stifters um ein langes Leben für sich, seine Eltern und die Brüder. An diesem Beispiel zeigt sich, wie viel an Informationen über das religiöse Leben einer antiken Stadt selbst ein so knapp gehaltenes Schriftzeugnis enthalten kann.

Artikel als PDF

zum Autor

Wilhelm Nebe lehrt seit 1993 am Institut für Semitistik der Universität Heidelberg sowie seit 1999 an der Heidelberger Hochschule für Jüdische Studien. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die hebräische und aramäische Epigraphik und Sprachwissenschaft sowie die Handschriften vom Toten Meer und aus der Kairoer Geniza.

Literatur

Hillers, Delbert R. / Cussini, Eleonora (Hgg.) (1996), Palmyrene Aramaic Texts (Publications of the Comprehensive Aramaic Lexicon Project), Baltimore / London, 237 Nr. 1658 (= PAT).

Ruprechtsberger, Erwin M. (Hg.) (1987), Palmyra. Geschichte, Kunst und Kultur der syrischen Oasenstadt (Katalog zur Ausstellung im Stadtmuseum Linz, 10. April–27. Mai 1987; Linzer archäologische Forschungen 16), Linz, 311.

Weitere Verweise

Datenbank mit zahlreichen Bildern und Informationen zu aramäischen Inschriften in Palmyra auf der Website des „Wisconsin Palmyrene Aramaic Inscription Projects

Das Comprehensive Aramaic Lexicon Project versammelt eine Vielzahl aramäischer Texte in allen Dialekten aus der Zeit vom 9. Jhd. v. Chr bis zum 13. Jhd. n. Chr.